Den Stromfluss sicherstellen
von Wolfgang Kröger
Unsere modernen Gesellschaften hängen von kritischen Infrastrukturen ab, von denen das Elektrizitätsübertragungssystem wohl die entscheidendste ist. Industrie, Kommunikation, Verkehr – all das kann ohne eine verlässliche Stromversorgung nicht funktionieren.
Das europäische Hochspannungsnetz erstreckt sich über fünf Synchrongebiete, die von 41 Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) in 34 Ländern geführt werden und 534 Millionen Menschen versorgen. Ein solches hochgradig vernetztes, aus unzähligen Komponenten bestehendes Verbundsystem zeigt ein komplexes Verhalten und ist lokalen oder räumlich verteilten Einwirkungen ausgesetzt. Auch in besten Zeiten ist es schwierig, den Normalbetrieb des Stromnetzes sicherzustellen. Die aktuellen großen politischen und organisatorischen Veränderungen im Energiebereich, insbesondere die angepeilte Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien und die Umstellung auf einen entflochtenen kompetitiven Energiemarkt, bringen neue Herausforderungen mit sich.
Erstens erfordert die Einspeisung von Strom aus Sonnen- oder Windenergie, die diskontinuierlich, häufig weit weg von den Gebieten ihres Verbrauchs und zu Spitzenlastzeiten erzeugt wird, sowohl Übertragungen in gigantischen Größenordnungen als auch Strategien zur Glättung der Spitzen.
Zweitens wird die Koordinierung durch den kurzfristigen Handel erschwert, der den Einsatz echtzeitnaher betriebstechnischer Daten und eine Zunahme des grenzüberschreitenden Stromaustauschs mit sich bringt. In der Vergangenheit war es so, dass ein einzelnes Unternehmen als Eigentümer und Betreiber der gesamten Versorgungskette normalerweise das absolute Recht besaß, die Verbraucher mit Strom zu versorgen. Heute, in Zeiten des freien Marktzugangs und aufgelöster Monopole, folgt jeder Teil seinen eigenen Vorgaben und Regeln, während die Versorgungssicherheit als gemeinwirtschaftliches Gut von einer staatlichen Organisation sichergestellt werden muss.
Auf dem europäischen Kontinent leistet eine umfassende Sammlung von operativen Grundsätzen, technischen Normen und Empfehlungen den ÜNB Hilfestellung bei der Verwaltung ihrer Netze und um ein ausreichendes Zusammenspiel sicherzustellen. Ein Eingreifen in die Marktkräfte ist verboten, außer es steht die Sicherheit auf dem Spiel.
Unfälle kommen vor
Ungeachtet dessen, wie sorgfältig die Lasten berechnet und kontrolliert werden, muss ein verantwortungsvolles Risikomanagementkonzept davon ausgehen, dass es zu Unfällen kommen kann. Die Störung, die am 4. November 2006 das westeuropäische Übertragungsnetz dreiteilte und einen Gutteil des Kontinents in Strommangel versinken ließ, führt uns anschaulich die Komplexität des Zusammenspiels der Faktoren – kontextbezogene, technische, menschliche und organisatorische – vor Augen, deren Zusammentreffen ein System in Gefahr bringen kann. Ausgelöst wurde der Störfall durch die Abschaltung zweier Hochspannungsleitungen, die die Ems in Norddeutschland queren, um ein im Landesinneren gebautes Kreuzfahrtschiff, die Norwegian Pearl, auf seiner Jungfernfahrt zum Meer passieren zu lassen. Das Ereignis war Monate vorher angekündigt worden, die entsprechenden Berechnungen waren durchgeführt, die Vorkehrungen getroffen. Ein paar Tage vor der Unterbrechung hatte jedoch die Werft um eine Vorverlegung von ein Uhr nachts auf den späten Abend ersucht. Die benachbarten ÜNB wurden nicht ausreichend informiert, die Überlastungsprognose nicht aktualisiert. Dazu kam, dass die Last für den früheren Zeitpunkt bereits verkauft war und eine kurzfristige Änderung wegen höherer Gewalt rechtlich nicht möglich gewesen wäre.
Die Natur tat ein Übriges: Zum Zeitpunkt der Abschaltung der Leitungen um 21. 39 Uhr, blies in Norddeutschland ein starker Wind und der eingespeiste Strom bewirkte einen hohen Lastfluss in Richtung Niederlande. Das allein wäre nicht verhängnisvoll gewesen. Die Last wurde von den verbliebenen Leitungen übernommen, insbesondere zwischen den Umspannwerken Landesbergen und Wehrendorf, die sich südöstlich und südwestlich der Ems-Überquerung befinden. Die beiden Umspannwerke wurden jedoch von zwei unterschiedlichen ÜNB betrieben, es entstanden Missverständnisse. In Unkenntnis der Schutzstrategien und Systemeinstellungen am anderen Ende der Leitung kam es zu falschen Lastflussberechnungen. Das für Landesbergen verantwortliche Team entschied, zwei Stromschienen zusammenzuschließen (das sind die Sammelleitungen für die Abnahme und Verteilung von Strom) – eine Notmaßnahme, von der man eine Lastminderung erwartete, doch das Gegenteil war der Fall.
Der Zusammenschluss der Stromschienen erfolgte um 22:10:11, worauf sich sofort die Leitung in Wehrendorf abschaltete. Es dauerte keine 18 Sekunden – bis 22:10:28,7, um genau zu sein – und eine Kettenreaktion automatischer Abschaltungen hatte das europäische Fernleitungssystem dreigeteilt: Es gab zwei Gebiete mit Unterfrequenz im Westen und Süden und ein Überfrequenzgebiet im Nordosten. Im Nordosten war es möglich, die Frequenz zu senken, indem Erzeuger vom Netz genommen wurden, während im Westen und Süden ein automatischer Lastabwurf notwendig war. Die Verbraucher waren eine halbe Stunde lang beeinträchtigt. Es brauchte schließlich mehrere Stunden, um die Synchronität des gesamten Stromnetzes wiederherzustellen.
Verhütung und Schadensbegrenzung
Damit der Normalbetrieb der Stromnetze sichergestellt ist, müssen Schutzvorkehrungen dafür sorgen, dass es nicht zu sogenannten Kaskaden, einem Spannungs- beziehungsweise Frequenzabfall oder einem Synchronitätsverlust kommt. Der klassische Ansatz zur Verhütung plötzlicher Störungen geht vom sogenannten N‑1-Prinzip aus. Dieser Regel zufolge müssen bei einem unerwarteten Ausfall eines einzelnen Elements des Verbundnetzes wie etwa einer Leitungsunterbrechung, die verbliebenen aktiven Elemente in der Lage sein, die geänderten Lastflüsse zu übernehmen und zu verhindern, dass eine Kaskade ausgelöst wird, ein System nach dem anderen abschaltet oder es zu beträchtlichen Verbrauchslastverlusten kommt. Die Sicherheit nach dem N‑1-Prinzip muss von jedem ÜNB für sein System und für Teile benachbarter Systeme ständig begleitend kontrolliert werden; nach einer Störung muss jeder ÜNB so rasch wie möglich N‑1-konforme Bedingungen wiederherstellen, im Normalfall dauert das zwanzig bis dreißig Minuten.
Für die Sicherheit im Sinne des N‑1-Prinzips müssen genaue Listen der zu berücksichtigenden Risiken erstellt werden. Die Bedrohungen können sich auf eine einzige kritische Komponente oder auf mehrere davon direkt oder indirekt (durch den Ausfall eines anderen Systems) auswirken; sie können systemintern sein oder von außen kommen. Um die Größenordnung der Risiken zu bewerten und Nadelöhre sowie kritische Elemente zu identifizieren, bedienen sich die ÜNB empirischer Untersuchungen, statistischer Daten und Stromausfallmuster. Da jedoch alle Einschätzungen im Wesentlichen von Erfahrungswerten ausgehen, fehlt es ihnen potenziell an Prognosefähigkeit.
Für die Sicherstellung der hohen Leistungsfähigkeit unserer Stromübertragungsnetze ist N‑1-Sicherheit bei gewissenhafter Umsetzung zweifellos Best Practice. Allerdings haben wir sowohl aus umfassenden, methodisch fortgeschrittenen Untersuchungen sowie aus unerwarteten Ereignissen in der Vergangenheit gelernt, dass es eine Fülle vorher nicht gekannter Abläufe gibt, darunter komplexe Mehrfachausfälle, bei denen es nicht ausreicht, nur zu reagieren. Es ist eine riesige Herausforderung, das Verhalten eines Stromnetzes zu verstehen, das häufig Teil eines Systems miteinander in Wechselwirkung stehender Systeme ist; es gibt keinen ganzheitlichen Ansatz, der alle Fragen abdecken kann, die hier hereinspielen. Man kann auf eine Reihe fortgeschrittener wissensgestützter und mathematischer Modellierungsverfahren zurückgreifen, wie etwa Input/Output-Interoperabilität, Modellbildung, die Theorie komplexer Netzwerke und agentenbasierte Modellierung – von denen jedes seine Stärken und Schwächen hat –, die schon weitgehend zum Einsatz kommen.
Naturgefahren – Paradigmenwechsel zur Resilienz
Weltweit haben wir in den letzten fünfzehn Jahren an die zwanzig große Stromausfälle erlebt, deren Ursache in vier Fällen Schlechtwetter und in einem Fall ein Erdbeben/Tsunami war. Das zeigt, wie wichtig es ist, beim Risikomanagement von Stromnetzen Naturgefahren zu berücksichtigen. Jedes dieser Ereignisse wirkte sich unterschiedlich aus hinsichtlich Leistungsverlust (der größte Leistungsverlust mit 60 Gigawatt trat in der US‑Region Great Lakes/New York City bei dem Blackout im Jahr 2003 auf), Anzahl der Betroffenen (in Indien waren das 2012 620 Millionen Menschen) und Dauer (zwischen einigen Stunden bis zu zwei Wochen im Zuge des Wirbelsturms Lothar, der 1999 über Europa hinwegfegte).
Übertragungssysteme sind auf Grund ihrer Größe einer Vielzahl unterschiedlicher Naturgefahren ausgesetzt, von denen die meisten mehrdimensional sind und ein Ereignis weitere nach sich zieht. So kann etwa ein Seebeben einen Tsunami auslösen, dessen Flutwellen Erdrutsche bewirken. Die wirtschaftlichen Kosten solcher Naturgefahren und die damit verbundenen Versicherungskosten sind hoch und dürften noch weiter steigen, da im Zuge des Klimawandels mit einer Zunahme extremer Witterungsbedingungen zu rechnen sein dürfte.
Die meisten Naturgefahren sind von vornherein großflächig. Zwar können einige der kritischen Komponenten identifiziert und geschützt werden, doch ist es nur schwer möglich, die Übertragungssysteme insgesamt entsprechend abzusichern. Daher wird ein Paradigmenwechsel angedacht, von der Verhütung zur Resilienz, bei der man sich weniger auf die Vermeidung von Störungen als vielmehr auf Anpassungs- und Erholungsfähigkeit der Systeme nach einem „Schockereignis“ konzentriert.
Verlässliche, integrierte Elektrizitätsnetze sind für alle Staaten und Regionen unverzichtbar. Lokale Ausfälle können weltweite Auswirkungen haben. Daher ist es unabdingbar, Staaten auf die Folgen möglicher Störungen aufmerksam zu machen, insbesondere von Störungen aufgrund von Naturkatastrophen, Wissen weiterzugeben und den Dialog zu erleichtern. Hier kommt Organisationen wie der OSZE eine wichtige Aufgabe zu.
Wolfgang Kröger ist emeritierter Professor für Sicherheitstechnik der ETH Zürich und ehemaliger Exekutivdirektor des ETH Risk Center.
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