“Ich bin voreingenommen? Du bist voreingenommen! Wir sind alle voreingenommen!“ Wie unser Unterbewusstsein unser Leben führt und wie wir es entschärfen können
Von Alexander Nitzsche, E-MINDFUL Kommunikationsberater
Eine Person kommt auf Sie zu und fragt mit deutlichem Akzent:„Entschuldigen Sie, können Sie mir bitte helfen?“ Überprüfen Sie Ihre erste Reaktion – sinkt Ihr Herz, weil Sie – schon wieder! – von einem Ausländer nach Geld gefragt werden, oder erwarten Sie, dass ein Tourist Sie nach dem Weg fragt?
Beurteilen Sie nicht, sondern beobachten Sie, wie Ihr Unterbewusstsein im ersten Moment reagiert. Es kann sein, dass es Ihnen eine Wahrheit mitteilt, die Ihr rationaler Geist lieber ignorieren würde. Begründet wird dies in den Forschungsergebnissen der zwei Psychologen Mahzarin Banaji und Anthony Greenwald, die vor 20 Jahren das Konzept der „impliziten Voreingenommenheit“ entwickelten. Während eine „explizite Voreingenommenheit“ jene ist, derer wir uns bewusst sind, ist die implizite Form heimtückischer: Sie haust in den Tiefen unserer Köpfe, offenbart sich meist erst, wenn wir instinktiv handeln, und erschliesst sich aus Verbindungen, die uns unlogisch erschienen, würden wir sie mit kalter Logik untersuchen.
„Keiner ist immun“, sagt Jerry Kang, Vizekanzler des Büros für Gerechtigkeit, Vielfalt und Inklusion der US-amerikanischen Universität UCLA. Unsere unterbewusste Voreingenommenheit stellt immer wieder unsere Überzeugung in Frage, dass wir fair, neutral und unparteiisch seien, kurz ein „guter“ Mensch. In seiner Videoserieerklärt Kang, wie Bauchgefühle und Stereotypen unser Handeln jederzeit beeinflussen. Und dies doch aus gutem Grund: unterbewusste Entscheidungseinflüsse sind ein Erbe des prähistorischen Kampfs ums Überleben.
In Welt, in der „homo hominis lupus“ regiert, machen schnelle, allgemeingültige und automatische Schlussfolgerungen es möglich, sofort zu reagieren. In diesem Zusammenhang ist die unbewusste Voreingenommenheit in der Tat nützlich. Schritten wir unvorsichtigerweise auf die Straße, während ein Bus direkt auf uns zuhält, dann übernimmt deruralteste Teil unseres Gehirns, die Amygdala, die Aktion und zwingt uns, zur Seite zu springen, um unser Leben zu retten, ohne dass das rationale Denken involviert ist. Wiewohl ein effektiver Mechanismus, um sich vor einem Tiger zu retten, mag es weniger sinnvoll sein, um komplexere und differenziertere Situationen zu bewältigen, wie den Umgang mit anderen Menschen. Am herausforderndsten ist, dass unbewusste Vorurteile und Stereotypen unsere Fähigkeit, eine Person fair und respektvoll zu beurteilen, stark beeinflussen können. Unser voreingenommenes Verhalten ist dann der direkte Ausdruck unserer voreingenommenen Wahrnehmung.
Gibt es einen Weg, diesen wilden Teil unseres Geistes zu zähmen?
Jerry Kang schlägt eine dreistufige Strategie vor, das „Denken, Entflechten und Entkoppeln“. Arbeiten Sie zuerst an Ihrer geistigen Haltung, seien Sie sich derer bewusst und nach in sich motiviert, Fairness zu zeigen. „Paradoxerweise kann man nur fair sein, wenn man davon ausgeht, dass man es nicht ist“, sagt Kahn. Als Zweites nehmen Sie sich das „Entflechten“ vor, senden Sie bewusst geistige Gegenbotschaften, um Ihr Unterbewusstsein zu beinflussen. Ändern Sie beispielsweise Ihren Medienkonsum. Drittens, „entkoppeln“ Sie den kausalen Zusammenhang zwischen Befangenheit und Verhalten, indem Sie Verfahren und Strategien entwickeln, die reale Entscheidungen weniger anfällig für befangene Vorstellungen machen. Ein vielzitiertes Beispiel dafür ist das „blinde Vorspielen“, das gewährleisten soll, dass Musiker nicht aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften (Mann oder Frau, schwarz oder weiss, etc.), sondern nach ihren Fähigkeiten ausgewählt werden.
Beantworten Sie nun eine letzte Frage: Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie das Wort „Migrant“ hören? Ein Boot voller Menschen, von Regen und hohen Wellen geschüttelt, die verzweifelt versuchen, einen sicheren Ort zu erreichen? Oder das Gesicht der in Polen geborenen Maria Salomea Skłodowska, die nach Frankreich zog, um ihr Studium voranzutreiben, und in ihrem späteren Leben – als Marie Curie – den Nobelpreis für Physik erhielt?
Seien Sie aufmerksam!