Die OSZE und die Sicherheit in Europa überdenken
In den nahezu vierzig Jahren ihres Bestehens musste sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, bis 1994 unter dem Namen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bekannt, an das sich ständig ändernde Sicherheitsumfeld anpassen. Reformbemühungen gingen oft auf einen Paradigmenwechsel in der globalen und europäischen Sicherheit zurück. Der erste Versuch einer umfassenden Modernisierung der OSZE wurde Ende 2004 unternommen. Der OSZE Ministerrat beauftragte damals einen Weisenrat mit der Überprüfung der Wirksamkeit der Organisation in einem sich wandelnden Europa. „Die alten Trennlinien des Kalten Krieges existieren nicht mehr. Daher wird die Rolle der OSZE, ebenso wie die anderer Sicherheitsorganisationen, an dieses neue Sicherheitsparadigma angepasst. […] Eine sich rasch ändernde europäische und eurasische Landschaft verlangt von einer Organisation wie der OSZE, dass sie sich konstruktiv darum bemüht, das Entstehen neuer Trennlinien zu verhindern,“ schrieben damals die Weisen in ihrem Bericht. Sie gaben Empfehlungen ab, wie das gemeinsame Vorgehen der Organisation in Bezug auf Langzeitkonflikte und Bedrohungen des 21. Jahrhunderts verbessert werden kann.
Nach dem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und Georgien 2008 brachte die OSZE unter dem damaligen griechischen Vorsitz den Korfu-Prozess auf den Weg – eine Reihe informeller Diskussionen über Möglichkeiten zur Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Teilnehmerstaaten. Den Höhepunkt des Korfu-Prozesses bildete das Gipfeltreffen von Astana 2010, bei dem sich die Teilnehmerstaaten „erneut zur Vision einer […] Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“ bekannten, „deren Grundlagen vereinbarte Prinzipien, gemeinsame Verpflichtungen und gemeinsame Ziele sind“. Doch zum vorgeschlagenen „Aktionsrahmen“, der einen Katalog von Reformmaßnahmen enthielt, kam kein Konsens zustande.
Nach Astana wurde die Reformagenda unter litauischem Vorsitz 2011 in Form der sogenannten V‑zu‑V-Dialoge fortgesetzt und Ende 2012 vom Helsinki+40-Prozess übernommen. Mit diesem Prozess sollten die Prinzipien von Helsinki in allen drei Sicherheitsdimensionen der OSZE – der politisch-militärischen Dimension, der Wirtschafts- und Umweltdimension und der menschlichen Dimension – bekräftigt und die Organisation besser in die Lage versetzt werden, gegenwärtige und künftige sicherheitspolitische Herausforderungen zu bewältigen. Sie gewann an Profil und das von der Schweiz und Serbien für ihre aufeinander folgenden Vorsitze (2014 beziehungsweise 2015) vereinbarte gemeinsame Arbeitsprogramm weckte hohe Erwartungen. Leider kam der Helsinki+40-Prozess aufgrund der Krise in der und um die Ukraine zum Stillstand.
Diese Krise stürzte auch die OSZE in eine existentielle Krise und bedrohte sie in ihrer Rolle als legitime Hüterin der Sicherheit in Europa. Vor diesem Hintergrund rief der damalige Amtierende Vorsitzende, der Schweizer Außenminister und Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Didier Burkhalter, auf dem Ministerratstreffen im Dezember 2014 in Basel den „Weisenrat zur europäischen Sicherheit als gemeinsames Projekt“ ins Leben. Dahinter stand die Absicht, die Grundlage für einen inklusiven und konstruktiven sicherheitspolitischen Dialog in der gesamten euroatlantischen und eurasischen Region zu schaffen, in dem die Ukraine-Krise im größeren Kontext sowie andere Entwicklungen im OSZE-Raum, in denen die Teilnehmerstaaten eine Bedrohung ihrer Sicherheit sehen, angesprochen werden. Der Rat sollte sich Gedanken darüber machen, wie das Vertrauen wiederaufgebaut, die europäische Sicherheit als gemeinsames Vorhaben auf Grundlage der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris (wieder) gefestigt und die wirksame Einhaltung der OSZE-Grundsätze sichergestellt werden kann. Außerdem erhielt er den Auftrag, sich mit den im OSZE-Raum festgestellten Bedrohungen und möglichen Reaktionen darauf zu befassen und Möglichkeiten zu prüfen, wie die kooperative Sicherheit bekräftigt, weiterentwickelt, gestärkt und durch zusätzliche Elemente ergänzt werden kann. Schließlich sollte er die besondere Rolle der OSZE für die euroatlantische und eurasische Sicherheit und ihre Rolle in Bezug auf die Verhinderung und Beilegung von Krisen, auch jener in der Ukraine, analysieren. Damit wird die Hoffnung verknüpft, dass es dem Weisenrat gelingt, einige Komponenten des Helsinki+40-Prozesses mit neuem Leben zu erfüllen. Das wird auch eines der Themen auf dem im Juli geplanten Treffen auf hoher Ebene in Helsinki sein und könnte auch für die Zeit nach dem Belgrader Ministerrat Ende des Jahres von Nutzen sein.
Der Weisenrat unter der Leitung von Botschafter Wolfgang Ischinger, dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, besteht aus 15 Mitgliedern aus allen OSZE-Regionen, die diese Funktion in ihrer persönlichen Eigenschaft wahrnehmen. Der Rat wird zwei Berichte verfassen. Der erste, ein Zwischenbericht, wurde am 17. Juni in Wien vorgestellt. Er befasst sich im Wesentlichen mit den Lehren, die sich aus dem bisherigen Engagement der OSZE in der Ukraine ergeben. Der zweite und abschließende Bericht wird allgemeinen Fragen der Sicherheit im OSZE-Raum gewidmet sein. Beide Berichte werden praktische Empfehlungen und Handlungsansätze für politische Entscheidungsträger, auch für den OSZE-Ministerrat und die OSZE-Teilnehmerstaaten, enthalten.
Die OSZE-Troika bestehend aus dem scheidenden Schweizer, dem gegenwärtigen serbischen und dem designierten deutschen Vorsitz wird allgemeine Leitlinien für die Arbeit des Weisenrates vorgeben. Dieser wird dazu auch Anregungen der OSZE-Teilnehmerstaaten, des Sekretariats, der Institutionen und der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sowie multilateraler Organisationen, die mit Fragen der europäischen Sicherheitspolitik befasst sind, der Zivilgesellschaft und von Denkwerkstätten einholen. Dazu kann er zum Beispiel Anhörungen abhalten, Studien in Auftrag geben und Besuche durchführen. Der Weisenrat und seine einzelnen Mitglieder können auch Gelegenheiten zu Gesprächen mit hochrangigen Vertretern der Teilnehmerstaaten nutzen (zum Beispiel bei Veranstaltungen am Rande multilateraler Konferenzen und anderer internationaler Treffen). Dem Rat steht eine Unterstützungsgruppe zur Seite, die operative und logistische Hilfsdienste bei der Einberufung von Treffen und wesentliche Unterstützung bei der Ausarbeitung der Berichte leisten wird. Das OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions leistet Beiträge in Form von Forschungsarbeiten und Positionspapieren. Der Weisenrat wird durch freiwillige Beiträge finanziert.
Botschafter Fred Tanner ist Erster Berater im Büro des OSZE-Generalsekretärs und im OSZE-Sekretariat als Projektmanager für den Weisenrat zur europäischen Sicherheit als gemeinsames Projekt zuständig.
Der Zwischenbericht des Weisenrates „Lessons learned for the OSCE from its engagement in Ukraine” kann hier abgerufen werden: www.osce.org/networks/164561?download=true
Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende des Weisenrates zur europäischen Sicherheit als gemeinsames Projekt, im Gespräch
Warum ist dieser Weisenrat notwendig?
Keines der existierenden internationalen Foren – weder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch der NATO-Russland-Rat, auch nicht die langjährigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland – keines dieser organisatorischen oder institutionellen Arrangements war in der Lage, einen Rahmen für die Suche nach einer friedlichen Beilegung des Konflikts um die Ostukraine, einschließlich der Krim-Frage, zu bieten.
Der Gedanke, einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der den Konfliktparteien – der Russischen Föderation, der Ukraine, den Vereinigten Staaten, den an vorderster Front stehenden Staaten wie Polen, die baltischen Staaten und anderen – die Möglichkeit gibt, bei informellen Bemühungen dabei zu sein, um nach Lösungen zu suchen und Wege zur Stärkung der europäischen Sicherheitsarchitektur zu ermitteln, entstand Ende letzten Jahres, und er erschien mir ausgesprochen gut.
Der Weisenrat wird sich bemühen, einen ernstzunehmenden Beitrag zu den Überlegungen zu liefern, was getan werden kann, um sicherzustellen, dass es nie mehr zu Krisen wie jener der letzten 12 Monate in der und um die Ukraine kommt.
Hat Sie Ihre Erfahrung als Vorsitzender der Diskussionen im Rahmen des nationalen Dialogs in der Ukraine im Namen der OSZE letztes Jahr auf die Rolle des Vorsitzenden in diesem Gremium vorbereitet?
Meiner Arbeit im Namen des Amtierenden Vorsitzenden der OSZE im Frühjahr letzten Jahres verdanke ich Einblicke aus erster Hand in die Lage sowohl in Kiew als auch in der Region Donbass. Ich konnte Donezk und andere Orte besuchen, bevor Kampfhandlungen solche Besuche unmöglich machten. Diese Erfahrung, verbunden mit meinem soliden Hintergrund als Verhandler in Krisen, ist außerordentlich nützlich bei der Festlegung der Prioritäten in unserem Gremium.
Welche Ergebnisse erwarten Sie von der Tätigkeit des Weisenrates?
Der Weisenrat hat ein zweifaches Mandat. Der erste Bericht enthält speziell an die OSZE gerichtete Empfehlungen – und der zweite wird sich mit allgemeineren Angelegenheiten der europäischen Sicherheit befassen, die über diejenigen hinausgehen, die die OSZE direkt betreffen.
In den ersten Bericht haben wir Empfehlungen aufgenommen, die – so hoffen wir – Eingang in die Beschlüsse des Ständigen Rates der OSZE finden werden: Empfehlungen, wie die OSZE besser in die Lage versetzt werden kann, mit derartig dringlichen Situationen umzugehen, und wie sie mit mehr politischem Einfluss und politischer Macht ausgestattet werden kann.
Wir haben aus der Erfahrung des Georgien-Konflikts von 2008 gelernt, noch mehr jedoch in diesem Jahr in der Ukraine. Der Weisenrat muss Sicherheit daher aus einem neuen Blickwinkel betrachten: Was ist mit der konventionellen Rüstungskontrolle passiert? Was mit dem Vertrauen in politischen Beziehungen? Wir müssen eine europäische Architektur schaffen, geprägt von Transparenz im militärischen und politischen Bereich, von Nachprüfbarkeit, von gegenseitiger Transparenz in der Information, von Rüstungsabbau.
2014 war ein Weckruf für die europäische Sicherheit. Der Weisenrat bietet die Chance zu reagieren, Vorschläge zu machen, wie wir eine belastbarere und inklusivere euroatlantische Sicherheitsgemeinschaft aufbauen können.
Mitglieder des Weisenrates
Wolfgang Ischinger, Deutschland, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz
Dora Bakoyannis, Griechenland, Abgeordnete des griechischen Parlaments, ehemalige Außenministerin und Amtierende Vorsitzende der OSZE 2009
Tahsin Burcuoğlu, Türkei, ehemaliger Botschafter
Ivo H. Daalder, Vereinigte Staaten, ehemaliger Botschafter, Präsident des Chicago Council on Global Affairs
Oleksandr Tschalyi, Ukraine, Präsident von Grant Thornton Ukraine
Vaira Vike-Freiberga, Lettland, ehemalige Staatspräsidentin von Lettland, Präsidentin des Club de Madrid
Jean-Marie Guéhenno, Frankreich, ehemaliger Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen, Präsident der International Crisis Group
Barbara Haering, Schweiz, ehemalige Abgeordnete zum Nationalrat, Direktorin der Denkfabrik econcept Inc.
Sergi Kapanadse, Georgien, ehemaliger Stellvertretender Außenminister, Direktor der Denkfabrik Georgia’s Reforms Associates
Sergei A. Karaganow, Russische Föderation, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik
Malcolm Rifkind, Vereinigtes Königreich, ehemaliger Außenminister, Parlamentsabgeordneter
Adam Daniel Rotfeld, Polen, ehemaliger Außenminister, Professor an der Universität Warschau
Teija Tiilikainen, Finnland, ehemalige Staatssekretärin im Außenministerium, Direktorin des Finnischen Instituts für internationale Angelegenheiten
Kassym-Schomart Tokajew, Kasachstan, ehemaliger Ministerpräsident, Senatsvorsitzender
Ivo Visković, Serbien, ehemaliger Botschafter, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Belgrad
Nähere Information finden sich unter osce.org/cio/133976
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